Yoga-Philosophie
Tradition und Moderne
Yoga, eine Jahrtausende alte Tradition, hat seinen Ursprung in der indischen Kultur. Übersetzt heißt Yoga Verbindung, Vereinigung.
Der Yogin suchte die Vereinigung mit dem Göttlichen, eine Verbindung zum Kosmos, seinem wahren Ursprung. Ein tiefes, intuitives Wissen davon war in alten Zeiten noch vorhanden, wie geistige Lehrer berichten. Durch das Leben hier auf der Erde fühlte sich der damalige Yogin von seinem Ursprung abgetrennt. Der Yoga diente der Kontrolle von Geist und Sinnen. Über verschiedene bestimmte Disziplinen, darunter auch die Körperübungen - asana -, sollte diese Kontrolle erreicht werden, um wieder das kosmische Fühlen und die Vereinigung mit dem Göttlichen zu erlangen. Die ältesten archäologischen Steinfunde mit Figuren in Yogapositionen, wie beispielsweise der Lotossitz, wurden auf 3000 v. Chr. datiert.
Yoga ist eine lebendige Wissenschaft, die sich über das Jahrtausende entwickelt hat und von Sehern und Eingeweihten immer wieder neu geschaut und interpretiert wurde. Anfang des 20.Jahrhundert brachten indische Yogis den Yoga in den Westen. Der bekannte Yogi Yogananda, der 1920 als indischer Delegierter am „Congress of Religious Liberals“ in Boston teilnahm, gründete dort alsbald die Self-Realisation Fellowship (SFR), um weltweit seine Lehren über Indiens uralte Philosophie und die Praktiken des Yoga zu verbreiten. Ein weiterer war Vishnu Devananda, der 1957 von seinem Meister Swami Sivananda, den Auftrag erhielt, nach Amerika zu gehen, um Yoga in den Westen zu bringen. Bereits 1959 gründete er in Montreal das erste Sivananda Yoga Vedanta Center. Es folgten weitere Yogis wie BSK Iyengar oder Selvarajan Yesudian, um nur einige zu nennen, die sich hauptsächlich in Europa, um die Verbreitung individuell ausgearbeitete Formen des Hatha-Yoga verdient gemacht haben. Die östliche Philosophie stieß auf das westliche Kulturgut, was eine gewisse Faszination auszulösen vermochte. In den letzten Jahren kam es zu einem regelrechten Yoga-Boom, in dem sich viele verschiedene Yogaarten etablierten. Der Yoga wurde dabei jedoch vielfach von seinem spirituellen Ursprung abstrahiert. Aus dem stark materialistisch gewordenen Zeitgeist heraus, wurde und wird zum großen Teil wegen seines gesundheitlichen und energetischen Nutzens publiziert und praktiziert.
Wie sich das Bewusstsein vom Kindes- zum Erwachsenenbewusstsein entwickelt, so könnte man auch von einer Entwicklung des Bewusstseins der Menschheit ausgehen und sich die Frage stellen, vor welcher Herausforderung der heutige Mensch in seiner seelisch-geistigen Entwicklungsfrage steht, im Vergleich zu dem Menschen der alten Yogazeit.
In meinem Yogaunterricht orientiere ich mich an dem viergliedrigen Menschenbild des Geisteswissenschaftlers Rudolf Steiner, das sind das Ich, das Bewusstsein, die Lebenskraft oder Lebensbildeleib und der Körper. Demnach stellt das Ich die höchste Instanz im Menschen dar. Es ist die Führungskraft im Menschen, welche ihn befähigt, bewusst Gedanken aufzugreifen und zu bilden, wodurch das Bewusstsein eine Ordnung erhält und von diesem geordneten Bewusstsein ausgehend auf die sogenannten unteren Glieder des Menschen, den Lebenskräften und den Körper einwirkt, indem es die Lebenskräfte erbaut und letztendlich seinen Ausdruck im Körper findet. Diese Ich oder das Selbst, wie es in der indischen Philosophie genannt wird, ist laut Steiner im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte herangereift, wodurch sich im Laufe der Zeit das heutige, zur Naturwissenschaft hin formende Bewusstsein und Denken ausgeprägt hat. In der Folge würde sich wiederum für den heutigen Menschen eine andere Aufgabe zur seelischen Entwicklung stellen als für den früheren. Er sei nun befähigt verstärkt seine Denkkraft zu entwickeln, auf eine höhere Stufe heranzubilden und einzusetzen. Er wäre heute mehr als früher aufgefordert sich zunächst neuen höheren Ideen, einem Ideellen, den Gesetzmäßigkeiten und höheren Werten bewusst hinzuwenden, diese eigenständig durchzudenken, sich selbst Vorstellungen darüber zu bilden und aus seinem eigenen Vermögen heraus ein persönliches Ideal zu entwickeln. Durch dieser Arbeit könne der Mensch aus seinem bisherigen persönlich geprägten Gefühlsleben, das heute mehr als früher mit subjektiven Emotionen aufgeladen ist, hinaussteigen zu einer tiefer gehenden und umfassenderen Empfindungskraft und letztendlich könne der Wille daran erkraften und der Mensch danach handeln. Vergleichbar einem Künstler, dem eine Idee aufleuchtet, er sich mit dieser intensiv auseinandersetzt, bis ein tiefes seelisches Fühlen ihn erwärmt und innerlich bewegt und ihn beflügelt und drängt diese Idee sichtbar zu machen, sie darzustellen in Form einer Skulptur, eines Gemäldes, einer musikalischen Komposition, eines Körperausdruckes, etc.
Der Mensch handelt dann nicht mehr vordergründig aus seinen niederen Anlagen, aus seinem Egoismus, seinen Trieben, Emotionen, Sehnsüchten heraus, die einen Nutzen für ihn darstellen, sondern er handelt aus einer höheren edleren Idee, einem Ideal heraus, er gestaltet Schönes, er trägt zur Veredelung des Menschen und letztendlich des sozialen Zusammenlebens in der Welt bei. Der Mensch wird in gewisser Weise frei.
Aus dieser Grundidee heraus ist es mir ein Anliegen innerhalb der Yogapraxis mit den Körperübungen die individuelle kreative Kraft des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und diese zu fördern. Ein seelischer Ausdruck soll sich in den Übungen zeigen. Die Ästhetik und nicht die körperliche Perfektion wird angestrebt. Eine künstlerische Übungsweise steht im Vordergrund.
Im ursprünglichen Sinne ist der Körper und sind die Bewegungen Ausdruck einer größeren Gesetzmäßigkeit, Ausdruck von Ästhetik und Harmonie, was man oft noch bei ganz kleinen Kindern sehen kann, bevor sie durch die verschiedensten Lebensumstände „verbogen“ werden. Der Körper ist ein Kunstwerk.
Den Bewegungen des Yoga liegen Gesetzmäßigkeiten und höhere Werte zugrunde, die wir studieren, sie erfühlen lernen, sie in Erfahrung bringen und schließlich körperlich ausdrücken lernen. In dem Sinne kann diese künstlerische Übungsweise zur Gesundung, Beweglichkeit und Bewegtheit beitragen.
Gesundheit ist ein 'Zustand körperlichen, geistigen und zwischenmenschlichen Wohlbefindens' laut Definition der WHO. Da dies kein statischer Zustand sein kann, könnte man vielleicht sagen: Gesundheit ist ein Ausdruck der Entwicklung zu hoher und höchster Harmonie.
Mit den Übungen setzen wir nicht in den Gewohnheiten an und suchen uns von dort aus zu verbessern, sondern wir setzen im Bewusstsein an. Das Bewusstsein, bestehend aus drei großen Kräften – das Denken – das Fühlen – der Wille -, bildet gemäß dieser Reihenfolge den Übungsansatz. Wir lernen auf neue, zunächst unbekannte Ideen zuzugehen und wagen es diese zu denken, daraus bildhafte Vorstellungen zu entwickeln, bis sich ein neues, harmonisches, bisher vielleicht unbekanntes Gefühl dafür einstellt, das wir gerne willentlich umsetzen wollen. Das Üben wird dabei nicht zu einem reinen Anstrengungsakt oder gar zum Zwang sondern zur Freude. Die Idee trägt die Übung über die Körpergewohnheit hinaus zu neuen Erfahrungen. Auf diese Weise erhält das Bewusstsein eine Schulung, eine grundlegende Ordnung und eine Erweiterung, denn üblicherweise denkt, fühlt und handelt der Mensch aus dem bereits Bekannten, aus der Gewohnheit.
Bei den Übungen arbeiten wir mit dem Körper und dieser ist wiederum Ausdruck von Gesetzmäßigkeiten. So bildet die Wirbelsäule die zentrale Achse, die den Menschen aufrichtet. Sie ist unten kräftig und stabil gebaut, nach oben hin leichter und filigraner. So kann z.B. in der Übung diese Gesetzmäßigkeit gedacht und bildhaft vorgestellt, Aufmerksamkeit und Konzentration hierauf gelenkt und eine Wahrnehmung hierzu entwickelt werden. Die Übung wird dann entsprechend ausgeführt, im unteren Bereich, Becken- und Lendenwirbelsäulenbereich wird eine Stabilität angestrebt und trainiert und im Schulter- und Halsbereich eine Gelöstheit. In der Brustwirbelsäule, der längste und beweglichste Bereich der Wirbelsäule, liegt die Möglichkeit der größten Beweglichkeit, der Ausdehnung und Spannkraft.
Rudolf Steiner spricht in seinen geisteswissenschaftlichen Ausarbeitungen auch vom dreigliedrigen Menschen, entsprechend den drei Bewusstseinskräften, Denken, Fühlen, Wollen, die am ganzen Körper und auch an der Wirbelsäule ihren Ausdruck finden. Der Kopf mit seinen Sinnesorganen, einschließlich der Halswirbelsäule wird demnach dem Nerven-Sinnessystem zugeordnet – dem Denken, der mittlere Bereich mit Brustwirbelsäule, sowie Brustkorb mit den Organen Herz und Lunge, dem rhythmischen System – dem Fühlen, und die Lendenwirbelsäule mit Becken und den Stoffwechselorganen, also dem Stoffwechsel - dem Willen.
Von diesem philosophischen Betrachtungsansatz her, ist es beim Üben sinnvoll den Beine- Becken- und Lendenwirbelsäulenbereich kräftig einzusetzen, um auf den Wert eines kräftigen, entschlossenen Willens aufmerksam zu werden. Den mittleren Bereich spannkräftig und ausdehnend zu gestalten, um den Wert eines weiten und bewegten Empfindungslebens wahrzunehmen und den Kopf und Halsbereich entspannt und leicht zu lassen, um den Wert einer konzentrierten Offenheit und Leichtigkeit im Gedankenleben zu erkennen.
So wird auf der einen Seite der Körper in seiner Ordnung betrachtet und in die Bewegung geführt und trainiert, er kann stabiler, spannkräftiger und flexibler werden, die Körperbereiche harmonischer aufeinander abgestimmt, die Organe stimuliert, der Lebensfluss angeregt und erbaut werden. Da sich aber vielfach Verhaltensmuster „eingefleischt“ haben, sowohl körperlicher als auch seelischer Art, bedarf es einer Qualifizierung und Entwicklung von Eigenschaften, wie die Fähigkeit der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung nach außen, der geordneten Konzentration usw. Das Bewusstsein sollte tatsächlich auch trainiert werden, um tiefere und feinere Empfindungsqualitäten heranbilden zu können und um den Willen gemäß solcher Empfindungen gelöster einsetzen zu können.
Im Yoga spielen die sogenannten Cakrah eine wichtige Rolle. Es sind feinstoffliche Energiezentren, deren Funktion darin besteht die sie durchströmende Energie zu transformieren und zu verteilen. Nach der Lehre des Tantra gibt es sieben solcher Zentren, fünf werden entlang der Wirbelsäule lokalisiert, das Sechste in der Stirn und das Siebte über dem Scheitelpunkt des Kopfes. Die Zentren bilden eine Schnittstelle zwischen Körper und Psyche, die mit bestimmten Techniken stimuliert und in subtile differenzierte Energiebewegung versetzt werden können.
Von Rudolf Steiner wurden die Cakrah ebenso erforscht und entsprechend des neuen Ich-Bewusstseins des heutigen Menschen in einen erweiterten Zusammenhang gestellt. Er benennt sie als ‚Sinnesorgane der Seele‘, als Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane für feinstoffliche Vorgänge, die es bewusst zu entwickeln gilt, um feinere und tiefere Empfindungen heranbilden zu können, beziehungsweise sich deren bewusst werden zu können. Solche Empfindungen und Werte sind dem heutigen, mehr naturwissenschaftlich geprägten Menschen kaum mehr zugänglich. Er gibt genaue Übungsansätze um bestimmte Eigenschaften ausprägen zu können, wie z. B. die Eigenschaft der Gedankenkontrolle, der kontrollierten Handlungsfähigkeit, Ausdauer, Toleranz, Unbefangenheit, des Gleichmutes, durch deren Ausprägung sich das Herz-Cakra entwickelt. Oder andere wie beispielsweise sich objektive Vorstellungen aneignen, oder zu den selbst unbedeutendsten Dingen bewusst Entschlüsse fassen, um hier nur einige zu nennen.
In der Yogaliteratur von Heinz Grill findet man zu den verschiedenen Übungen, neben der körperlichen Ausführung, auch die Beschreibungen von Seeleneigenschaften hierzu, entsprechend der Cakrah, welche die Übungen von einem rein körperlichen Aspekt zu einem seelischen anheben. Anhand der einzelnen Übungen kann eine Auseinandersetzung mit verschiedenen differenzierten Eigenschaften und Werten erfolgen, die in die Vorstellung gebracht werden, beim Praktizieren erprobt und erfahren werden können und so letztendlich körperlich ausgedrückt werden können. Solche Erfahrungen innerhalb der Übungspraxis und die Freude darüber machen uns geneigt, diese auch auf das Leben zu übertragen, sie dort zu erproben und einzubringen.
Ich sehe es so:
Alles Üben wäre ‚wertlos‘, wenn der Mensch nicht seine bereits vorhandenen und noch zu entwickelnden, auf Werte beruhenden Fähigkeiten im täglichen Leben anwenden würde und damit zu einem gehobenen, menschlichen sozialen Leben beitragen würde.